Leeve ole Primanerinnen und Primaner,
als umtriebiger Kommunalpolitiker hat man die Ehre, jedes Jahr zur Entlassungsfeier der Abiturientinnen und Abiturienten des Detlefsengymnasiums als Ehrengast eingeladen zu werden. Da werden dann ganz viele Reden vom Schuldirektor, Landrat, Eltern, Lehrern und natürlich den Schülerinnen und Schülern gehalten. Der Arbeitstitel ist jedes Jahr ähnlich: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens“. In diesem Jahr musste ich nun warum auch immer an meine eigene Entlassungsfeier im Jahr 1983 denken. Ich erinnerte mich daran, dass wir damals ein Buch herausgegeben haben – Titel „Abitur 83 – Höre niemals auf anzufangen“. Um die Erinnerung an die damalige Zeit aufzufrischen, habe ich im Nachgang dieses Werk noch einmal vollständig gelesen. Man kommt dann ins Sinnieren und ich habe dabei festgestellt, wie sehr die Schule mein Wesen doch geprägt hat. Dazu drei anschauliche Beispiele:
Mathe-Leistungskurs mit Uwe Klinger: „Hansen, Du hältst Dich wohl für besonders schlau, so vorlaut wie Du immer bist. Dabei waren die Jahrgänge vor Euch viel besser. Die Mathe Abituraufgabe von vor fünf Jahren kriegst Du jedenfalls auf keinen Fall hin.“ Da ich schon damals eine große Klappe hatte, widersprach ich natürlich energisch, worauf Herr Klinger sagte: Na gut, dann bringe ich morgen eine Teilaufgabe mit und dann werden wir ja sehen.
So geschah es und ich nahm die Aufgabe mit nach Hause. Er hatte nicht übertrieben, auf diesem Niveau hatte ich noch nicht gerechnet. Aber mein Ehrgeiz war geweckt und ich habe die ganze Nacht kein Auge zu getan, bis ich ein Ergebnis hatte. In der nächsten Stunde wartete Herr Klinger nun schon ganz freudig, um mich ein wenig vorzuführen: „Na, Hansen, hatte ich Recht, hast doch die Aufgabe bestimmt nicht lösen können“. Replik: „Aber selbstverständlich habe ich die Aufgabe gelöst!“ Ungläubiges Staunen und nach Prüfung des korrekten Ergebnisses die Frage: Respekt, aber das war doch wohl wirklich schwer, hast bestimmt lange dran gesessen, nicht wahr? Meine Antwort in typischer Hansen Manier: „Ich fühlte mich intellektuell doch etwas unterfordert, Aufgabe habe ich zwischen Abendessen und Tagesschau mal eben gelöst.“ Großes Gelächter, ich war der Held. Habe Herrn Klinger nach der Stunde aber aufgeklärt, darüber hat er sich sichtlich gefreut. Was habe ich für mich mitgenommen?
„Lehne Dich nicht immer zu weit aus dem Fenster, man kann auch rausfallen“ aber: „Selbstbewusstsein kann einen gepaart mit der nötigen Portion Talent, Ehrgeiz und Glück auch im Leben ganz weit nach vorne bringen.“
Zweites Beispiel: „Hannes Krüger im Sportunterricht, 3000 Meter Lauf, 1x Chaussee und zurück“ Ich war nun wahrlich nie ein guter Sportler, aber die Mittelstrecke ging so. Habe mich bei diesem Lauf wirklich angestrengt und bin so als vierter oder fünfter durchs Ziel.
Total außer Atem aber sichtlich stolz, es so gut geschafft zu haben. „Na, wie war es?“ fragte Herr Krüger? „Habe alles gegeben und kann nicht mehr!“ Daraufhin schaute er mich zweifelnd an und sagte: „Nein, Du hast nicht alles gegeben, weil wenn Du alles gegeben hättest, hättest Du Dich im Ziel übergeben müssen. Im ersten Moment war ich stocksauer, später allerdings hinterfragte ich mich selber kritisch und musste zugeben: „Etwas mehr wäre vielleicht wirklich noch gegangen“. Meine Lehre fürs Leben:
„Nur wenn man wirklich bis zum letzten alles gibt, kann man auch echte Höchstleistungen vollbringen, alles andere ist immer noch mehr oder weniger Komfortzone.“
Drittes und letztes Beispiel: Wieder Hannes Krüger, diesmal Philosophieunterricht. Wir haben Karl Jaspers gelesen, Einführung in die Philosophie. Für uns Schülerinnen und Schüler hatte Jaspers eine ganz eigene kaum zu dekodierende Sprache entwickelt und wir konnten mit den Texten im ersten Moment nicht so viele anfangen, vieles wirkte eher belustigend. Ein Satz ist mir allerdings mein Leben lang in Erinnerung geblieben und begleitet mich seitdem:
„Last uns die Kommunikation von Mensch zu Mensch durch jeden Sinn von Wahrheit in liebendem Kampfe wagen.“
Später habe ich das noch durch die Worte des Philosophen Hans-Georg Gadamer ergänzt:
„Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“
Liebe Leute, diese drei Beispiele verdeutlichen ganz gut, wie ich auch heute noch ticke und ich bin mir sicher, dass jeder von Euch auch mindestens drei Beispiele aus der Schulzeit nennen kann, die ihn nachhaltig beindruckt und geprägt haben.
Und so wurden wir, wie wir heute sind und wie wir sein werden, ganz nach dem Motto „Zukunft braucht Herkunft“.
Zurück zum Buch „Abitur 83 – Höre niemals auf anzufangen“:
Ich zitiere das Vorwort des damaligen Jahrgangsleiters Horst Wirsing:
„Aber sind die Probleme, die auf die heutige Jugend zukommen, nicht viel schwieriger, komplexer, ja unlösbarer geworden als in früheren Zeiten? Ich denke da nur an den Rüstungswahnsinn auf dem atomaren Sektor, der die Existenz der gesamten Menschheit bedroht, an die Umweltzerstörung, die das ökologische System und damit unsere Lebensgrundlage in Frage stellt, an die technischen Revolutionen auf vielen Gebieten, die die Arbeitsplätze vernichten, und an den Hunger in der Dritten Welt.“
Wir sehen, früher war eben nicht wie so gerne von den ewig Gestrigen behauptet alles besser und wahrscheinlich war früher sogar nicht einmal alles anders. Früher war einfach nur früher.
Wir haben in diesem Buch damalige Prominente gefragt, welchen Ratschlag sie uns denn für unser zukünftiges Leben geben könnten.
Zwei Antworten haben mich tief beindruckt und diese möchte ich Euch nicht vorenthalten. Zum einen Willy Brandt:
„Ich möchte Sie lediglich bitten, im Interesse Ihres eigenen Lebens, Ihre Phantasie nicht verkümmern zu lassen, denn die Phantasie ist der Urfeind der Fremdbestimmung. Und sie ermöglicht es uns, die Lage anderer wenigstens partiell zu erfassen.“
Phantasie, Selbstbestimmung, Freiheit und Empathie für andere Menschen. Das sollte für uns nach wie vor Programm und Auftrag sein.
Und als zweites die von mir nach wie vor sehr verehrte Hildegard Hamm-Brücher, die den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard zitiert:
„Jeder Mensch kommt mit einem versiegelten Auftrag auf die Welt – er muss sich bemühen herauszufinden, welchen Auftrag er hat. Herauszufinden, welches Euer ureigener Auftrag ist – dazu möchte ich Euch Mut machen.“
Ich sehe das auch so wie Willy Brandt und Hildegard Hamm-Brücher. Jetzt kann ja jeder von Euch hier mal in sich gehen und darüber nachdenken, welches denn sein Auftrag ist.
Zum Schluss noch ein paar kurze Gedanken zur aktuellen „Lage“, jetzt kommt der Politiker in mir wieder durch:
Wenn man heute so den gängigen Medien zuhört, findet man nur zwei Geschichten, beides Dystopien: Entweder ist sowieso alles zu spät und die Welt geht unter oder aber alles „Fake News“ und alles ist gar nicht wahr, wir können so weiter machen wie bisher. Ganz viel Meinung bei gleichzeitig ganz wenig Ahnung und das natürlich auch noch – mal hysterisch mal ängstlich – vorgetragen.
Wir brauchen aber weder das eine noch das andere, was wir benötigen sind keine Wutbürger sondern Mutbürger. Wir brauchen keine Dystopien oder Retropien, es bedarf positiver Geschichten, um unsere Zukunft aktiv und zielfördernd gestalten zu können.
Und auf dem Weg in eine bessere Gesellschaft können wir hinfallen, wir können sogar auch mal kurzfristig scheitern, wir werden uns ärgern und es wird uns natürlich auch alles viel zu lange dauern. Das ist alles nicht wirklich schlimm. Wir können alles tun, nur eines dürfen wir niemals machen:
Wir dürfen niemals aufhören, anzufangen!