Teil II Die Schülerverbindung „Holsatia“ (1879-1897)

Im selben Jahr, als Detlefsen Nachfolger des „guten, schwachen und altjüngferlichen Vollbehr“ (Allmers) und Direktor eines Kollegiums wird, das mangels geistiger Interessen in der Freizeit vorwiegend Karten spielt, bildet sich die Schülerverbindung „Holsatia“, möglicherweise als Phalanx zur Abwehr künftig unbequemer stärkerer Beanspruchung. „Jedes Mitglied ist berechtigt und verpflichtet, jeder Lehrperson auf Ehrenwort zu versichern, nichts von einer solchen Vereinigung zu wissen, noch ihr anzugehören“. Die handgeschriebenen, vielfach überarbeiteten Statuten nennen als Zweck der „Holsatia“, einander in „vergnügter, edler Geselligkeit und freundschaftlicher Liebe“ nahezustehen. Aber was ist „edle Geselligkeit“? Die „ehrenhaften Primaner des Lycei Tychopolitane“ kneipen wie Studenten als Burschen und Füchse nebst dazu gehöriger Alter Herren einmal im Monat in der Gastwirtschaft „Zum Schwarzen Adler“ (mündliche Überlieferung), dem noch heute vorhandenen uralten Haus Holländergang 6, am Rande der Stadt. §§1-10 des Comments heißen: Es wird gesoffen! §11: Es wird weiter gesoffen! Wer gegen die strengen Regularien verstößt, wird mit „Bierverschiss“ bestraft. Da kann es sein, dass er im dunklen Nebenraum auf einem Thron von Tisch und Stuhl den ganzen langen Kneipabend einsam und ohne Bier zubringen muss, während es nebenan immer lustiger wird. Wenn Lehrer zum Kontrollieren kommen, schlägt die Wirtin Alarm. Dann weichen die Schüler durch Türen und Fenster nach hinten aus aufs freie Feld. Woher hatten Schüler das Geld für Bier, Vereinsbeiträge und edle Alben, wenn nicht von ihren Eltern, den Glückstädter Advokaten-, Pastoren-, Ärzten, Apothekern und Pädagogen? In den frühen Neunzigerjahren waren auch zwei Söhne Detlefsens Holsaten, der 1868 geborene Sohn Ernst mit Kneipnamen „Plom-Plom“, der 1874 geborene Sohn Otto mit Kneipnamen   „Crassus“. Was schon bei Vätern und Vorvätern gebräuchlich war und den Söhnen verständnisinnig zugebilligt wurde, endete 1897 mit einem Eklat! Ein Holsate denunzierte „Holsatia“ bei der obersten Schulbehörde, wohl aus Rache, weil ein Bierverschiss ihn zu sehr kränkte. Es folgten Revision und Beschlagnahme von Beweismitteln: Wappen, Statuten, Comment, Protokolle, Kassenbuch und zwei Bände Bierzeitung wurden am 14. Oktober 1897 amtlich konfisziert. Direktor Detlefsen bekam eine Mahnung, besser auf die „äußere Ordnung“ seiner Schule zu achten, amtlich, aber wohl nur pro forma. Denn der Brandbrief endet mit freundschaftlichen Wünschen für Detlefsens Familie … Wie zu erwarten, blieben die Interna des Gymnasiums nicht intern. Die Stammtische waren nicht weit. Und nicht nur das! Die „Zuchtlosigkeit der Jugend (Primaner) 1897“ wird zum Titel der „Acte der Polizeiverwaltung in Glückstadt betr. den Wirtschaftsbesuch durch die Primaner des hiesigen Gymnasiums“ Stadtarchiv Sign. 1756).

Bürgermeister Brandes als örtliche Polizeibehörde zitierte vier Wirtsleute zur Vernehmung ins Rathaus:

„Mohrs Gasthaus, Klub- und Gesellschaftshaus ersten Ranges, herrlich amHafen in Nähe der Elbe gelegen“: Gastwirt Mohr gab an, zu ihm kämen überhaupt keine Gymnasiasten, außer in Begleitung Erwachsener oder in besonderen Fällen, und dann nur in die allgemeine Gaststube. Ein besonderes Zimmer zum Kneipen habe er Gymnasiasten seit langen Jahren nicht eingeräumt. Er gab aber zu, daß „solches vor 14 bis 16 Jahren geschehen ist, aber auch nur im Rahmen der gewöhnlichen Polizeistunde“. Er dreht den Spieß um und bittet zu ermitteln, wer behauptet habe, daß bei ihm „von Gymnasiasten gekneipt sei.“ Davon kriegt Detlefsen noch zusätzlich Arbeit.

„Zum schwarzen Adler“ (?): Gustav Heinsohn hatte nie Gymnasiasten ein besonderes Zimmer zum Kneipen gegeben. Überhaupt waren immer sehr wenig Gymnasiasten zu ihm gekommen, nur hin und wieder. Dass Gymnasiasten nicht die Erlaubnis hatten, in seine Wirtschaft zu gehen, war ihm nicht bekannt. Außerdem könne er nicht merken, wenn Leute mit Hut kämen, dass es sich um Gymnasiasten handele:

„Zur Erholung“, vormals Tranbrennerei am Herzhorner Rhin: Gastwirtin Schacht sagte aus: „Einige Tage vor Weihnachten 1896 waren eine Anzahl junge Leute in meiner Gastwirtschaft und zwar in einer Privatstube. Sie saßen dort zu Abend und tranken Bier dazu. Dabei hatten sie einen Weihnachtsbaum angezündet. Sie blieben dann noch längere Zeit zusammen, die älteren bis gegen 2 Uhr, die anderen waren zu verschiedenen Zeiten schon eher gegangen, einige gleich nach Beendigung der Feier. Es war ein Faß zu etwa 40 bis 50 Liter, genau erinnere ich mich nicht, es muß aber von etwa dieser Größe sein, aufgelegt. Teilgenommen haben, wie ich glaube, 16 bis 17 Personen. Die meisten davon waren, wie ich glaube, Studenten, auch einige Gymnasiasten waren darunter, sie hatten aber ihre Mützen nicht auf und ich kenne die Gymnasiasten nicht purerhand. Es ist nicht wahr, daß ich Wache gestanden habe, das würde mir im Winter bei der Dunkelheit doch nicht einfallen. Ich habe die Zusammenkunft für durchaus erlaubt gehalten, Ungehörigkeiten sind in keiner Weise dabei vorgekommen, es war auch, wie ich glaube, keiner betrunken.“

„Vergnügungsetablissement Unter den Linden“: Gastwirt Sieverts gab zu Protokoll: „Es ist wiederholt vorgekommen, dass Gymnasiasten bei mir gekegelt haben, und zwar einige Male sonntags und während des Vogelschießens. Dieselben haben sich sehr gesittet benommen. Betrunken hat sich niemand. Es dauerte das Kegeln auch etwa nur zwei Stunden.“

Nach Unterzeichnung der Protokolle wurde den Wirtsleuten eröffnet, dass das Konzessionsentziehungsverfahren gegen sie eingeleitet werden würde, falls sie wiederum Gymnasiasten ohne Begleitung ihrer Eltern oder Stellvertreter derselben bzw. ohne Begleitung der Lehrer des hiesigen Gymnasiums in ihrer Gastwirtschaft aufnehmen würden. Beglaubigt: Brandes.

Nachdem er die Glückstädter Wirtsleute eingeschüchtert hatte, fragte Bürgermeister Brandes beim Direktor des Königlichen Gymnasiums an, unter welchen Bedingungen die Schüler überhaupt Gastwirtschaften besuchen dürften, und, ob sie eventuell dazu gezwungen werden könnten, ihre Schülermützen zu tragen, dann könnten sich die Wirte nicht so leicht herausreden. Antwort: „Den Schülern bis zur Obersekunda einschließlich ist der Besuch von Wirtschaften innerhalb der Stadt unter allen Umständen verboten, außer, wenn sie mit ihren Eltern kommen. Den Primanern ist der Besuch bis Ostern 98 völlig verboten. Weitere Bestimmungen werden dann getroffen werden. D. Detlefsen, Dir.“

Im September 1898 beschloss das Lehrerkollegium, den Primanern zu gestatten, am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag von 5 bis 7½ Uhr die Wirtschaften „Holsteinischer Hof“ (Hotel Tiessen) und „Bahnhofs Hotel“ zu besuchen. Da die Ortspolizisten vom Provinzial-Schulamt angewiesen worden waren, auf den Wirtshausbesuch der Gymnasiasten zu achten, wiederholte Bürgermeister Brandes seine Anfragen jeweils nach Jahresfrist, „ob die Erlaubnis noch in Kraft steht oder abgeändert ist“.

Im Jahre 1903 veranlasste seine Anfrage Dir. Detlefsen, das Thema in der nächsten Konferenz wieder zur Sprache zu bringen. Im letzten Dienstjahr Detlefsens 1904 beschloss das Kollegium, „dass den Primanern der Besuch der Gasthöfe von Veit und Keil, im Winter statt des letzteren … (unleserlich) nachmittags bis 9 Uhr am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag gestattet sein soll.“ Detlefsens Nachfolger Petersen nebst Kollegium gestatteten den Besuch der Bahnhofswirtschaft (Kämmerer) und der „Hoffnung“ (Augustin) am Sonnabend und Sonntag nachmittags zwischen 6 und 8 Uhr. Der legendäre Großvater unseres jüngst verstorbenen Schulfreundes Dr. Gerhard Köhn, Sergeant Hagemann, bat im Jahre 1909 den Herrn Gymnasialdirektor Professor Petersen um Auskunft, ob die Verfügung noch zu recht bestehe, denn: „Es werden z. Zt. Gymnasiasten, besonders Primaner Schmidt, wohnhaft hierselbst, Dithmarscherstr., zu jeder Abendzeit bis spät in die Nacht hinein in fast allen hiesigen Wirtschaften gesehen.“

So weit die Akte. Im Jahre 1900 wollte der Vorstand des neu gegründeten Primanervereins das beschlagnahmte Besitztum der Holsatia von der Schulbehörde wieder zurück erbitten, doch Direktor Detlefsen riet davon ab. Bloß nicht schlafende Hunde wecken! Im Jahre 1900 wurden Holsatias schriftliche Hinterlassenschaften ausgeliefert mit der Auflage, dass sie niemals in Schülerhände gelangen dürften: Es sind kostbar ausgestattete, penibel geführte Alben und ein Wappen dabei, dazu die Mitteilung: „Den 1. Band der Bierzeitung haben wir wegen der zahlreichen pietätlosen Äußerungen gegen die Lehrer vernichtet.“ Die Hinterlassenschaften werden heute im Archiv der Primanervereinigung von 1887 im neuen Gymnasium Am Dänenkamp aufbewahrt. Schulfreund Dr. Rüdiger Fock hat es geordnet.

Vom Stadtgespräch gedemütigt zu werden, war eine „üble Erfahrung“. Grund, Gras über die Sache wachsen zu lassen! Und das gelang vollkommen. Die Geschehnisse betr. „Holsatia“ fallen kollektiver psychischer Verdrängung anheim, bis um 1993 ein Esel kommt, der es wieder abfrisst. Eine Ehemalige  Stadtarchivarin, findet die Akte, fühlt sich angesprochen und muss von (Ehren-) Amts wegen sowieso wissen, was „die Schatzkammer der Stadtgeschichte“ hergibt.

Ruth Möller (Manuskript o. J.).