„Noch im August hatten wir die Prüfung der Abiturienten, die insofern ein Ereignis war, als zum ersten Male ein Schulrat dabei präsidierte; es ging uns dabei recht gut und ebenso unseren Schülern.“ Detlef Detlefsen in: „Allmers – Detlefsen“ – Briefwechsel“, Brief 46.
Der Übergang von den friedlichen Schulzuständen in Hannover nach Schleswig-Holstein versetzt in gespannte und provisorische Verhältnisse. Man war in den Herzogtümern erst dabei, die deutsche Schule wieder zu sammeln und einzurichten; aber die Gemüther waren politisch noch viel zu erregt und uneinig, als daß dies mit Einmüthigkeit geschehen wäre. Vom dänischen Zwange war das Land frei, aber darum noch nicht einig; seit 1863 hatte keine feste, allgemein geachtete Autorität bestanden. Die Parteiungen durchzogen auch die öffentlichen Schulen. Die lange Dauer des offenen und geheimen Widerstandes gegen die Unterdrückung hatte augenscheinlich manche der guten Eigenschaften dieser tüchtigen niederdeutschen Volksart, wie mit etwas Fremdartigem überdeckt: man traute einander nicht mehr, und war sehr vorsichtig gegen die eigenen Landsleute. Wie oft bemerkte ich auf den Bahnhöfen und sonst, daß Bekannte, die sich zufällig trafen, nur flüsternd miteinander sprachen, mit wiederholtem Umsehen, ob man sie nicht belausche oder beobachte. Einig schien man nur im Mißtrauen gegen alles von außen Kommende, im Gefühl der eigenen Genügsamkeit für alle Interessen des Landes und in der Behauptung männlicher Unabhängigkeit, die anderen nichts verdanken mag. So erklärte sich eine gewissen Reservirtheit, der ich in Schleswig-Holstein häufiger als in irgend einem andern neupreuß. Lande bei Directoren und Lehrern begegnete, wenn es auch unvergessen war und mir manchen Dank eintrug, daß ich in der Zeit der Noth mehreren durch die Dänen vertriebenen Lehrern zu einer Anstellung in Preußen behülflich gewesen war. Es fehlte übrigens auch da nicht an solchen, die für die großen Wandlungen der Zeit offenen Sinn hatten …
Die Gymnasien waren mit Ausnahme von Altona, Kiel und Flensburg nur schwach besucht; in Plön fand ich im Ganzen 77 Schüler. An geistiger Befähigung stand die schleswig-holsteinische Jugend, das war leicht zu erkennen, der keines anderen Landes nach; aber wie selbst die Lehrer durch die lange und eifrige Beteiligung an den politischen Lebensfragen des Landes vielfach von wissenschaftlicher Tätigkeit abgelenkt waren, so wurde auch unter den Schülern der oberen Classen nicht selten ruhige und ausdauernde Hingebung an die Lernarbeit vermißt; sich anzustrengen waren sie nicht gewöhnt: Der Eindruck war meist der eines sorglosen Sichgehenlassens, woran auch eine im allgemeinen äußerst nachsichtige Disciplin Anteil hatte. Die Anstalten waren in diesen Beziehungen aber sehr verschieden unter sich. Ein Kontrast, wie ich ihn z. B. zwischen der Prima in Meldorf und der in Glückstadt traf, war mir früher nicht vorgekommen: dort bei den wackern Dietmarschen, am Geburtsorte Niebuhrs, ein durchgehender Zug ernster Verständigkeit, und beim Unterricht nicht leicht eine unüberlegte Antwort, hier eine leichtsinnige und genußsüchtige Jugend, die sich mit den Anforderungen der Schule abzufinden wußte. Wessen sie fähig war, sah ich gleich bei meiner Ankunft in Glückstadt. Ich war vorher in Meldorf gewesen. Als ich daselbst am ersten Morgen nach dem Gymnasium wollte, schloß ich mich einem Schüler an, der die Bücher unter dem Arm und eine Cigarre rauchend desselben Weges ging. Er kannte mich noch nicht, mochte aber, als ich im Gespräch mit ihm u. a. auch fragte, ob den Schülern das Rauchen auf dem Schulwege gestattet sei, in der Art meiner Frage eine Verwunderung wahrgenommen haben. Als wir am Schulhause angekommen waren warf er die Cigarre weg. Einige Tage später fielen mir beim Einlaufen des Zuges in den Glückstädter Bahnhof mehrere junge Leute auf, die etwas renommistisch Studentisches hatten und mit besonderem Eifer aus langen Pfeifen Dampfwolken bliesen. Augenscheinlich wollten sie Jemand empfangen, und der Erwartete war ich selbst; ihre spähenden Augen trafen bald den Gesuchten. Sie blieben mir dann, noch eifriger als zuvor paffend, auf den Fersen, bis ich meinen Gasthof erreicht hatte. Ich hatte mein Comitat scharf genug angesehen, um sie am andern Tage in der Prima wiederzuerkennen; da entgingen sie der verdienten Strafpredigt nicht, kamen dann auch und thaten Abbitte; und es war mir so wie ich mir gedacht hatte: auf die Benachrichtigung aus Meldorf, da ich das rauchen auf dem Schulwege für unziemlich halte, hatten sie sich vorgenommen: Dem wollen wir zeigen wozu wir hier im Lande Freiheit haben.
Ludwig Adolf Wiese (1806-1900), Pädagoge, Oberregierungsrat im Preußischen Kultusministerium (1852-1875), Vorsitzender der Reichsschulkommission, Autor in der Allgemeinen Deutschen Biographie. In: „Lebenserinnerungen und Amtserfahrungen“ 1886: Inspektionsreise in den neupreuß. Landesteilen (Hannover, Schleswig-Holstein, Kurhessen, Nassau, Frankfurt a. M.) S. 264.