Teil I Die Schülerverbindung „Glückstädter Primanerbibliothek“ (1816-1933)

Als Europa nach den Freiheitskriegen (1813-1815) von der Fremdherrschaft Napoleons befreit war, führten studentische Burschenschaften demokratische Reformen durch und forderten sie auch an den Universitäten. Der allgemeinen Begeisterung schlossen sich Schüler oberer Klassen an, dabei gingen die Glückstädter an der (dänischen) Gelehrtenschule in ihrem Freiheitsdrang offenbar zu weit. Treten im öffentlichen Leben Reibungen auf, hat das den Vorteil, dass sich der Vorgang in Akten niederschlägt, die der späteren Forschung als Quelle dienlich sind. Direktor Detlef Detlefsen schreibt in der Schulchronik über einen seiner Vorgänger, dessen „Sisyphusarbeit“ er mit Bedauern verfolgt:

„Im Dezember 1823 fiel ein schweres Disziplinarvergehen gegen den Rektor vor, die darüber angestellte Untersuchung ergab, dass unter den Primanern eine geschlossene Verbindung bestand, deren Präses sich gehalten glaubte, „dasjenige, was die Ehre der gesamten Klasse beleidigte, zu verfechten.“ (Konferenzprotokoll vom 5. Dezember 1823). Alle Schüler derselben außer zweien gehörten zur Verbindung. Sie hielten regelmäßige Versammlungen auf den geräumigen Zimmern einiger Mitschüler. Der Verein bestand bereits seit etwa 1816 und hatte geschriebene Gesetze. „Der Zweck dieser Verbindung sei besonders Erhaltung der Ordnung und Freundschaftlichkeit, nächstdem ein litterarischer, d. h. Lesung deutscher Klassiker.“ Die Gesetze wurden dem Lehrerkollegium

eingehändigt, und in einer Konferenz am 20. Dezember beschloss dieses, die Verbindung müsse aufgehoben werden, sofern sie „eine Tendenz habe, die Mitglieder derselben in den Gegensatz zum Publicum zu stellen, die Klasse als Einheit zu constituiren, die durch einen Präsidenten vertreten wird, in dessen Person sie beleidigt werden könne, ferner die jüngeren Schüler, die mit dem Schimpfnamen Füchse bezeichnet werden, zu unterdrücken, jedoch in Beziehung auf die Bibliothek eine Verbindung zu einem litterarischen Zwecke ihnen gestattet werden möge.“ Von den Schülern wurde mit dem Jawort und feierlichem Handschlag versprochen, „ohne Wissen und Willen der Lehrer keinen ähnlichen Verein wieder zu bilden oder in einen solchen einzutreten.“

Im Dezember 1825 machten die Primaner nochmals einen Versuch, in einem ohne weitere feste Formen abgehaltenen Convent einen Mitschüler für unpassendes Betragen außerhalb der Klasse zu strafen. Die Lehrer traten auf‘s ernstlichste dagegen auf und bedrohten in einem ähnlichen Falle

den Schüler, der einen solchen Convent berufe und das Wort führe, mit der Relegation. In den folgenden Jahren ist vom Convent in den Konferenzprotokollen nicht mehr die Rede, wenn auch ein einziges mal eine Spur von einem gewissen „Pennalismus“ vorkommt.2 Dagegen genehmigte das Lehrerkollegium bereits am 10. Juli 1826 einen von den Primanern eingereichten Antrag, „einen Verein zu bilden, in welchem gegenseitige weitere Ausbildung der Hauptzweck sein sollte“, jedoch unter der Bedingung, „dass dem Rector die Gründe vorgetragen würden, wenn ein Schüler ausgeschlossen werden sollte, und es von seiner Genehmigung abhängen müsse, ob dieses geschehen dürfe, daß ferner dem Rector das zu haltende Journal stets vorgelegt und ihm besonders angezeigt werde, wenn neue Bestimmungen, von welchen die Rede in der Eingabe ist, abgefaßt

werden sollten. Die in der Konferenz vom 5. Dezember 1823 erwähnte Bibliothek war von

den Primanern bereits zu Anfang dieses Jahres, also noch vor der Neuorganisation der Schulbibliothek (s. Progr. von 1897 S. 28) begründet und besteht noch jetzt als Eigentum der Prima. Die Protokolle der Verhandlungen sind vom Jahre 1823 an bis auf‘ die Gegenwart in zwei Bänden erhalten; das erste vom 12. Februar 1823 beginnt: „Auf dem ordnungsmäßigen Convent am 23. Januar des Jahres 1823 wurde beschlossen, eine Prima-Bibliothek deutscher Klassiker zu gründen und zu dem Ende nach Umstimmung ein vierteljähriger Beitrag eines jeden Primaners von 10 ß (75 Pf.) festgesetzt. Nur für Primaner bestimmt, sollte sie auch nur von solchen verwaltet werden.3 Auf dem ordnungsmäßigen Convent vom 10. May wurden folgende Gesetze gegeben: Sollte die Bibliothek deutscher Classiker dereinst nicht fortbestehen können, so fällt sie der Glückstädter Schulbibliothek anheim.“ Vom Jahre 1824 wird S. 4 bemerkt:

„Um diese Zeit wurde die Bibliothek gänzlich vernachlässigt, weil die Verbindung der Primaner durch einen Lehrerconvent data dextera aufgehoben wurde.“ Im Dezember 1825 heißt es, den Primanern sei von den Lehrern untersagt, Convente zu halten, worüber und in welcher Sicht dies

auch immer geschehen möchte. Es ward erlaubt, daß, wenn etwas über Bibliotheksangelegenheiten zu beschließen wäre, dies in der Klasse abgemacht würde. Das alles entspricht den oben mitgeteilten

Konferenzbeschlüssen. Hervorgegangen ist aber diese Bibliotheksgründung offenbar aus dem lobenswerten und gesunden Drange der Jugend, einen tieferen Einblick in die deutsche Litteratur zu gewinnen, als die damals noch sehr unentwickelte Schulbibliothek ihr gewähren konnte, für deren

Vermehrung von Seiten des Staates noch in höchst ungenügender Weise gesorgt wurde. Ohne Zweifel ist dieser Drang zum guten Teil auch als ein Erfolg des vom Rektor erteilten deutschen Unterrichtes anzusehen. Doch kam es wiederholt zu Konflikten mit dem Rektor, der die Bibliothek mit der der Schule zu vereinigen wünschte, jedoch ohne Erfolg. – Über den Bestand der Primanerbibliothek und ihren Anwachs genauer zu berichten unterlasse ich; da ist Vorzügliches und Gutes mit Mittelmäßigem, nicht selten mit Schlechterem vereint; außer durch die Mitgliederbeiträge

vermehrte sie sich durch Geschenke, von Zeit zu Zeit wurde das wertlos gewordene entfernt, um Raum zu schaffen für Besseres; denn die Bibliothek wandert beim Abgang des Bibliothekars von dessen Zimmer auf das eines neuen. Sie enthält gegenwärtig über 600 zum großen Teil wertvolle Werke und erfüllt den Zweck, zu dem sie gegründet wurde, bis auf den heutigen Tag in vortrefflicher Weise, so daß auch Lehrer sie gelegentlich benutzen. … Aber es scheint nicht selten in der Prima zu

Katastrophen gekommen zu sein, durch die eine Anzahl von Schülern auf einmal abzugehen den Anlaß nahm. So verließen Michaelis 1827 vier Primaner, darunter sogar ein Pensionär des Rektors, die Schule und gingen auf das Christianeum Altona über. Weder das Konferenzprotokoll noch die Schulnachrichten enthalten eine Bemerkung darüber. Aus dem Protokoll der Primanerbibliothek aber geht hervor, daß Reibungen wegen der Primanerbibliothek die Ursache waren.“

Detlef Detlefsen, Direktor (1879-1904) in: „Geschichte des Königlichen Gymnasiums zu Glückstadt“, Glückstadt 1890, Kapitel „Das Rektorat Jungclausens (1814-1837)“, S. 24/25.